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StartseiteIn diesem Kapitel geht Wiebke Voß auf Streitbeilegungsmethoden ein, welche neben der klassischen gerichtlichen Streitbeilegung bestehen und erläutert dabei speziell das Themengebiet Online Dispute Resolution anhand verschiedener Anwendungsformen.
Bei allen Unterschieden in Funktionsweiseund Konzeption von ODR-Modellen ist den vielfältigen Formen der Online-Streitbeilegung ein gewisses Maß informationstechnologischer Unterstützung gemein. In Anlehnung an klassische Streitbeilegungsverfahren, bei denen ein Streitmittler als neutraler Dritter fungiert, wird die Technologie im Rahmen von ODR-Prozessen denn auch vielfach als „vierte Partei“ (fourth party) gehandelt. Dabei rangiert der Technologie-Einsatz von bloßer Elektronifizierung der Verfahrensführung in ODR-Modellen erster Generation (1.) bis hin zur Nutzung innovativer, transformativer Systeme, welche die Verhandlungsführung automatisiert vorbereiten oder übernehmen (2.).
Schlichte elektronische ODR-Verfahren (auch als Online ADR oder eADR bezeichnet) integrieren technische Komponenten lediglich in den bekannten analogen Prozess der Streitbeilegung unter Moderation durch einen menschlichen Mediator, Schlichter oder Schiedsrichter.
Ein paradigmatisches Beispiel derartiger elektronifizierter ADR stellt die in Umsetzung der europäischen ODR-Verordnung geschaffene Universalschlichtungsstelle des Bundes dar, die eine Beschwerdeeinreichung per Online-Eingabemaske ermöglicht und die elektronische Kommunikation der Beteiligten koordiniert. Im Grundsatz aber können sämtliche ADR-Varianten, nicht zuletzt Mediation und auch Schiedsverfahren, in eine virtuelle Umgebung transferiert werden (dann als online mediation bzw. online arbitration). An die Stelle von postalischer Kommunikation und Präsenz-Verhandlungen treten dabei schlicht E-Mail-Verkehr, Verhandlungsführung per Telefon-oder Videokonferenz sowie vielfach unterstützende Cloudlösungen zur Übermittlung und Organisation von Dokumenten. Das wohl prominenteste Exempel eines Online-Schiedsverfahren, das genuin für Streitigkeiten der Cyberwelt (konkret: für Domain-Streitigkeiten) geschaffen wurde, ist die Uniform Domain-Name Dispute-Resolution Policy (UDRP), eine Schiedsordnung der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN).
Eine Sonderstellung unter den eADR-Modellen nimmt das Crowdsourcing (auch: crowdsourced ODR) ein, bei dem eine per Online-Plattform eingeschaltete Laienjury eine Entscheidung über den Konflikt trifft. Typischerweise tragen die Konfliktparteien hierbei per Online-Portal ihren Fall vor – schriftlich oder auch per Video –, laden bei Bedarf Beweismittel hoch und reagieren auf Rückfragen der Juroren. Diese treffen nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden bzw. „gesundem Menschenverstand“ eine Entscheidung, die für die Parteien allerdings in der Regel nicht bindend ist, sondern lediglich einen adäquaten Kompromiss aufzeigen soll. Im U.S.-amerikanischen Rechtsraum dient die Cyberjury auch als Stimmungstest für die Entscheidungstendenz einer echten Jury in einem etwaigen späteren Zivilprozess. Auf solches Crowdsourcing setzt etwa der zu Alibaba gehörende chinesische Online-Marktplatz Taobao mit seinem User Dispute Resolution Center. Nicht mehr aktiv ist hingegen der in Indien pilotierte eBay Community Court.
Crowdsourcing (auch: Crowdsourced Online Dispute Resolution) ist eine ODR-Modell, bei dem eine per Online-Plattform eingeschaltete Laienjury eine Entscheidung über den Konflikt trifft.
Innovativere ODR-Modelle der zweiten Generation hingegen ersetzen den menschlichen Streitmittler durch ein automatisiertes Verfahren, das sich deshalb auch nicht mehr als schlichte Online-Fortführung traditioneller ADR-Mechanismen, also nicht als bloße eADR, darstellt. Informationstechnologische Lösungen können dabei zum einen genutzt werden, um den Konflikt aufzuarbeiten, zu strukturieren und zu evaluieren, zum anderen auch, um die Streitbeilegung selbst automatisiert durchzuführen.
Der Vorbereitung späterer Streitbeilegungsbemühungen durch Strukturierung des Konfliktfalls dienen insbesondere sog. Expertensysteme. Dabei handelt es sich um regelbasierte Softwarelösungen, die ausgehend von einer menschlich angelegten Wissensbasis Handlungsempfehlungen für die Lösung rechtlicher (oder anderer, z.B. medizinischer) Probleme anbieten. Im Kern werden Anleitung und Feedback eines menschlichen Ratgebers durch einfache KI, auf Basis von Wenn-dann-Beziehungen imitiert. Realisiert werden Entscheidungsunterstützungssysteme zur Klassifizierung juristischer Probleme typischerweise durch dynamische Fragekataloge mit Multiple-Choice-Optionen (sog. Entscheidungsbäume oder decision trees), die den Ratsuchenden sukzessive zur Diagnose seines Rechtsproblems leiten und vorgefasste Erklärungen sowie Ansätze zur Problemlösung bieten. Paradigmatisches Beispiel für ein solches Expertensystem ist der Solution Explorer, den das kanadische Civil Resolution Tribunal den Rechtsuchenden zur Verfügung stellt (dazu näher unter V.1.a). Ergänzt und fortgeführt werden kann eine derart softwaregestützte Sachverhaltsdiagnose durch decision support systems (auch bekannt als DSS), die Vorschläge zur Streitbeilegung entwickeln und Verhandlungsstrategien aufzeigen können, auch unter Vorhersage des Prozessrisikos. Entwickelt wurden derartige Tools etwa zur Prognose der vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen im australischen Familienrecht: Bereits seit zwei Jahrzehnten verwendet das Entscheidungsunterstützungssystem Split Up prädiktive Modelle zur Vermögensaufteilung unter den Eheleuten, seit Sommer 2020 nun auch die staatlich unterstützte Online-Plattform amica.
Decision Support Systems (DSS) sind Softwaresysteme, die für menschliche Entscheidungsträger für operative und strategische Aufgaben relevante Informationen ermitteln, aufbereiten, übersichtlich zusammenstellen und bei der Auswertung helfen. Im rechtlichen Kontext können sie Vorschläge zur Streitbeilegung entwickeln und Verhandlungsstrategien aufzeigen, auch unter Vorhersage des Prozessrisikos.
Vorprogrammierte Strukturen und algorithmenbasierte Informationsverarbeitung können schließlich dazu dienen, die Streitbeilegung selbst zu moderieren oder gar herbeizuführen. Keimzelle derartiger technologiebasierter Streitbeilegung ist die sog. assisted negotiation, bei der Informationstechnologie den Prozess gütlicher Streitbeilegung zwischen den Parteien unterstützt und dabei die Rolle des Streitmittlers übernimmt – ähnlich einem menschlichen Mediator oder Schlichter. Assisted negotiation-Verfahren sollen dabei primär die Kommunikation der Parteien verbessern: So operieren die legendären Streitbeilegungstools von eBay und PayPal mit einer Software, die Standard-Antragsformulare und fallspezifische Kataloge möglicher Lösungsansätze bereithält, die andere Parteiautomatisch kontaktiert und im Bedarfsfall eine webbasierte Verhandlungsumgebung vorhält, die selbstständig Fristen setzt oder auch zu Vergleichsvorschlägen ermutigt. Computerunterstützte Verhandlungen nach demselben Muster ermöglicht auch die Software Modria, eine Ausgliederung ehemaliger eBay-ODR-Mitarbeiter, die auf den öffentlichen Sektor spezialisiert ist. Eine noch weitergehende Rolle übernimmt die Informationstechnologie bei der sog. automated negotiation. Bei diesen computergesteuerten Verfahren wird Verhandlungssoftware eingesetzt, um sukzessive die konfligierenden Positionen der beiden Parteien zu präzisieren, anzunähern und letztlich vollautomatisiert einem Kompromiss zuzuführen. Klassische Methode dieser automatisierten Vergleichstechnik ist das blind bidding-Verfahren–eine Verhandlungsmethode, die dadurch geprägt ist, dass die Parteien ihr Vergleichsangebot im Programm eingeben, beim typischen double blind bidding in für den Gegenüber nicht sichtbarer Weise. Die Angebote werden nur bei Überschneidung oder hinreichender Annäherung innerhalb einer zuvor festgelegten Vergleichszone offengelegt, oftmals erst nach mehreren Gebotsrunden. Dann ermittelt das Programm automatisch den Median und gibt diesen als Vergleichsvorschlag aus. Solche Verhandlungssoftware stellt neben dem Pionierprogramm Cybersettle etwa das kanadische System SmartsettleOne bereit.
Bei Assisted Negotiation (zu deutsch: Assistierte Verhandlung) unterstützt Informationstechnologie den Prozess gütlicher Streitbeilegung zwischen den Parteien und nimmt dabei die Rolle eines Streitmittlers ein. Die Streitbeilegungstools von eBay und PayPal operieren bspw. mit solchen Systemen.
Die Automated Negotiation (zu deutsch: automatisierte Verhandelung) ist ein computergesteuertes Verfahren, bei der Verhandlungssoftware eingesetzt wird, um sukzessive die konfligierenden Positionen der beiden Parteien zu präzisieren, anzunähern und letztlich vollautomatisiert einem Kompromiss zuzuführen
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Prof. Dr. Wiebke Voß ist Professorin an der Universität Würzburg. Ihre juristische Ausbildung absolvierte sie an den Universitäten Osnabrück (Erste Juristische Prüfung 2014, Promotion 2018), Granada und Cambridge (LL.M.-Studium 2020/2021) sowie am OLG Frankfurt a.M. (Zweites Juristisches Staatsexamen, 2019). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Bürgerlichen Rechts, Zivilverfahrensrechts, Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts und der Rechtsvergleichung.